Sehr geehrte Präsidenten und Ministerpräsidenten,
Exzellenzen,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Frau Kohl-Richter,
liebe Familie Kohl,
wir nehmen heute Abschied von Helmut Kohl, dem Kanzler der Deutschen Einheit, Karlspreisträger und Ehrenbürger Europas. Er, der einst als junger Mann Geschichte studierte, hat jetzt selbst einen Platz in den Geschichtsbüchern eingenommen. Helmut Kohl verkörpert eine Epoche. Er hat mit seiner Innen- und Außenpolitik Pflöcke eingeschlagen, die bis heute Halt bieten. Seine Bundeskanzlerschaft ist verbunden mit vielen Jahren wirtschaftlicher Prosperität.
Doch bei all dem verlor er nie den Blick für das große Ganze über Deutschland hinaus. Er dachte über den Tag hinaus. So hat Helmut Kohl Umbrüche mitgestaltet und entscheidend das Deutschland und das Europa mitgeschaffen, in dem wir alle heute leben. Vieles, was für uns selbstverständlich ist, geht auf ihn zurück. Dass Ost- und Westeuropa vereint sind, dass wir einen gemeinsamen Markt haben, dass es keine Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten gibt, dass die meisten dieser Staaten über eine gemeinsame Währung verfügen, dass es die Europäische Union in ihrer heutigen Form überhaupt gibt, all das ist und bleibt ganz wesentlich mit dem Namen Helmut Kohl verbunden.
Er hat eine ganze Generation geprägt. So manche Geister schieden sich an ihm. Nicht wenige haben sich an ihm abgearbeitet und gerieben. Viele von uns, auch ich, können davon erzählen. Doch das tritt zurück hinter dem überragenden Lebenswerk. Genau deshalb zollen ihm auch politische Kontrahenten Respekt.
Wie lässt sich das erklären? Was mir persönlich an Helmut Kohl besonders imponierte, das waren sein ausgeprägtes und feines Gespür für das politisch Machbare wie auch, und das ist eben kein Widerspruch, seine unerschütterlichen Überzeugungen, die ihn in seinen Entscheidungen leiteten. Auf Helmut Kohl war Verlass.
Von Anfang an holte er auch Menschen in seine Mannschaft, mit denen er manche in seiner Partei überraschte. Seinen Kabinettsmitgliedern ließ er durchaus weitgehend freie Hand, jedenfalls erheblich mehr, als Außenstehende denken mochten. Dies konnte ich auch erfahren.
Natürlich war es nicht immer leicht, mit eigenen Argumenten durchzudringen. Manchmal schien es sogar schier unmöglich. Aber er ließ es sich nie nehmen, seinen Kabinettsmitgliedern mit Rat und manchmal auch mit Tat beiseitezustehen, und zwar in ganz konkreten Lebenssituationen. Mir zum Beispiel half er 1992 nach einem schweren Beinbruch monatelang, ärztliche Behandlung mit meinem Ministeramt noch vereinbaren zu können. Ja, Helmut Kohl ging auf Menschen zu. Er interessierte sich für sie. Er suchte und pflegte enge Kontakte. So gelang es ihm, in Deutschland, in Europa und in der Welt verlässliche Beziehungen zu knüpfen, Vertrauen aufzubauen und Freundschaften zu schließen. Er war ein den Menschen zugewandter Weltpolitiker.
Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, fuhr er als Erstes nach Paris. Ein Berater von Präsident François Mitterand berichtete später, dass sich die französische Seite zunächst in großer Zurückhaltung geübt habe, aber dann – ich zitiere: „waren wir sofort Feuer und Flamme“. Das persönliche, herzliche Verhältnis prägte und spiegelte zugleich das freundschaftliche deutsch-französische Verhältnis wider.
Tief in das Gedächtnis unserer Nationen eingeschrieben ist das Bild beider Staatsmänner, die Hand in Hand vor den Gräbern von Verdun standen. Diese Geste der Versöhnung und Verbundenheit markierte ein neues Kapitel gemeinsamer Geschichte. Helmut Kohl verstand es, Brücken zu bauen. Sie reichten nach Paris und Warschau, nach Washington und Moskau. Unermüdlich arbeitete er an einem guten Miteinander Deutschlands mit seinen Nachbarn und Partnern in der Welt.
Er hatte als Kind und Jugendlicher noch selbst den Zweiten Weltkrieg erlebt, das unermesslich große Leid, das Deutschland im Nationalsozialismus über Europa und die Welt gebracht hatte, und auch die Ängste in Bombennächten. Es waren gerade diese Erfahrungen, die ihn antrieben, sich schon in jungen Jahren in der neu gegründeten Christlich Demokratischen Union zu engagieren. Es waren diese Erfahrungen, in denen schließlich auch seine außenpolitische Maxime gründete, die unmissverständlich lautete: Wir müssen uns für ein Europa starkmachen, in dem es nie wieder Krieg gibt.
Dieses Denken in geschichtlichen Zusammenhängen prägte sein politisches Wirken. Zugleich bewahrte sich Helmut Kohl seine Bodenhaftung. Er blieb seiner Heimat, der Pfalz, ein Leben lang aufs Engste verbunden. Fest verwurzelt, wie er in dieser Region inmitten Europas war, hatte er auch einen besonderen Sinn für die Sicht und die Gefühle in unserer Nachbarschaft, und das kam immer von Herzen. Das spürten seine Gesprächspartner. Sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Was er sagte oder zusagte, dazu stand er ohne Wenn und Aber.
Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, waren Deutschland und Europa geteilt. Eine bewaffnete Konfrontation auf europäischem Boden war stets ein präsentes Schreckensszenario. Am Ende seiner Amtszeit war Deutschland vereint und zum ersten Mal in seiner Geschichte mit allen seinen Nachbarstaaten in Frieden, Freiheit und Freundschaft verbunden. Der Weg zur Erweiterung der Europäischen Union und der NATO nach Mittel- und Osteuropa war bereits weitgehend geebnet. Die Einführung des Euros als gemeinsamer Währung war beschlossen.
Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, habe ich in der DDR gelebt. Ich habe seine Tischrede beim Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn im Fernsehen gehört und gesehen, als er Honecker vor laufenden Kameras sagte – ich zitiere: „Die Menschen in Deutschland leiden unter der Trennung. Sie leiden an einer Mauer, die ihnen buchstäblich im Wege steht und die sie abstößt. Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung. Sie wollen zueinander kommen können, weil sie zueinander gehören.“
Diese Worte des Bundeskanzlers Helmut Kohl gaben uns in der DDR Kraft. Die Bürgerrechtsbewegung in Polen und anderen Staaten des einstigen Ostblocks sowie der neue Wind, der damals aus Moskau wehte, machten uns in der DDR Mut. Hunderttausende wagten sich auf die Straße, demonstrierten für Freiheit und brachten die Mauer zu Fall. Helmut Kohl war es, der die Einheit wollte, als andere noch zögerten oder gar abwinkten. Er machte sich daran, den Weg zur Einheit zu ebnen und hatte dabei stets die Interessen unserer Nachbarn und Partner im Blick. Seine tiefe europäische Überzeugung und das Vertrauen, das er weltweit genoss, halfen ihm, Sorgen und Bedenken gegenüber einem vereinten Deutschland zu zerstreuen. Das wird für immer die alles überragende einmalige historische Leistung Helmut Kohls bleiben. Gemeinsam mit seinen Partnern bettete er die deutsche Einheit in die europäische Einigung ein. Ein Werk des Friedens, ein Werk der Freiheit und ein Werk der Einheit.
Damit knüpfte er an Konrad Adenauer, Jean Monnet, Robert Schuman und andere große Europäer an. Europa ist das Werk von Generationen. Jede davon steht vor neuen Herausforderungen. Jede muss ihre eigenen Antworten finden, wie sie Europa zukunftsfest macht. Immer wieder kommt es dabei auf das an, was Helmut Kohl in besonderer Weise auszeichnete: auf das Wissen um die Geschichte, auf die Weitsicht, in langen Zeitlinien zu denken, auf die Nähe zu den Menschen, auf den Blick für das Machbare und das Zumutbare.
Heute gibt es eine Todesanzeige des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ für Helmut Kohl. Darin wird daran erinnert, was Helmut Kohl für dieses Denkmal in der Mitte Berlins geleistet hat. Es steht stellvertretend für sein Handeln. Er wird darin mit folgenden Worten zitiert, die er fand, als das Denkmal gegen heftigen Widerstand durchgesetzt werden musste: „Nicht die nächste Generation, sondern unsere muss es bauen. Wir, jetzt, heute, hier und nicht irgendwann.“ Und so wurde es dann beschlossen im Deutschen Bundestag mit Zweidrittelmehrheit.
Meine Damen und Herren, wir werden Helmut Kohl nachher nach Deutschland zurückbegleiten. Sein Weg wird noch einmal durch seine Heimatstadt Ludwigshafen führen. Hier war er zu Hause, lange Jahre zusammen mit seiner ersten Frau Hannelore, die ihm in guten wie in schlechten Zeiten stets zur Seite stand. Wir gedenken auch ihrer in Dankbarkeit.
Liebe Frau Kohl-Richter, Sie haben Ihren Ehemann Helmut Kohl in all den letzten Jahren voller Hingebung und Liebe begleitet, bis zuletzt. Ihnen gehört mein Mitgefühl. Mein Mitgefühl gehört allen, die in Helmut Kohls Familie um ihn trauern.
Den Schlusspunkt finden die Trauerfeierlichkeiten heute in Speyer. Damit schlagen wir noch einmal den Bogen von Frankreich nach Deutschland, in die Heimat, in die Pfalz, vom Ehrenbürger Europas zum Kanzler der Einheit, als den wir Deutsche und viele andere ihn auf immer im Gedächtnis behalten werden. Ohne Helmut Kohl wäre das Leben von Millionen Menschen, die bis 1990 hinter der Mauer lebten, völlig anders verlaufen, natürlich auch meines.
Lieber Bundeskanzler Helmut Kohl, dass ich hier stehe, daran haben Sie entscheidenden Anteil. Danke für die Chancen, die Sie mir gegeben haben. Danke für die Chancen, die Sie vielen anderen eröffnet haben. Danke für die Chancen, die wir als Deutsche und Europäer durch Sie erhalten haben. Sie haben unendlich viel erreicht. Mögen Sie in Frieden ruhen. Jetzt ist es an uns, Ihr Vermächtnis zu bewahren. Ich verneige mich vor Ihnen und Ihrem Angedenken in Dankbarkeit und Demut.
No comments:
Post a Comment