Monday, 25 December 2017

Lasst uns endlich in Ruhe!

Versteckter Rassismus ist unter europäischen Politikern weit verbreitet. Doch afrikanische Länder müssen sich nichts bieten lassen.
Paul KagameReagiert selbstbewusst auf Rassismus: Ruandas Präsident Paul Kagame
Foto: dpa
Der Gedanke ist so alt wie der weiße Rassismus selbst: dass die Welt besser wäre, wenn es nicht so viele Schwarze gäbe. Heute, wo offener Rassismus in Deutschland nicht mehr salonfähig ist, versteckt er sich gern hinter diffusen Warnungen vor der „demografischen Zeitbombe“ namens Afrika und der Mahnung vor der „Bevölkerungsexplosion“: Wenn es Mitte dieses Jahrhunderts nach aktuellen Wachstums­trends 2,5 Milliarden Afrikaner geben wird statt einer Milliarde wie heute, was werden die dann alle machen? Uns überrollen, schwingt hinter solchen Warnungen immer mit.
In Ignoranz der Tatsache, dass Afrika nach Australien der dünnstbesiedelte Kontinent der Welt ist, werden düstere Zukunftsszenarien an die Wand gemalt. Bundesentwicklungsminister Müller (CSU) warnt vor 100 Millionen Flüchtlingen, die aus Afrika nach Europa strömen könnten. Und wenn Flüchtlingspolitik in Deutschland kein Wahlkampfthema ist, dann aus einem Grund: Alle sind sich sowieso einig. Eine Million Syrer vor zwei Jahren, na ja. Aber jetzt noch eine Million Afrikaner – nein, das ginge zu weit.
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Wie so oft wird in Frankreich, das als einziges europäisches Land neben Russland immer noch seinen Großmachtdünkel vor sich her trägt, ungenierter ausgesprochen, was man in Deutschland nur verschämt flüstert. „Afrikas Herausforderung heute ist viel tiefer, nämlich eine zivilisatorische“, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron in Hamburg nach dem G20-Gipfel im Juli, als ein Journalist aus der Elfenbeinküste von ihm wissen wollte, inwiefern sich Frankreich an Deutschlands Marshallplänen für Afrika zu beteiligen gedenke. In seiner üblichen forschen Art blaffte Macron: „In einem Land, das immer noch sieben bis acht Kinder pro Frau zählt, können Sie Milliarden Euro ausgeben, Sie werden nichts stabilisieren.“
Macron, die vermeintliche Lichtgestalt aller Progressiven, ist eben auch nur ein französischer Präsident. Vor zehn Jahren hatte sein Vorvorgänger Nicolas Sarkozy vor verblüfften Professoren in Senegal eine Grundsatzrede zu Afrika mit dem Hinweis gekrönt, dass „der afrikanische Mann noch nicht in die Geschichte eingetreten“ sei. Sarkozy sprach vom Mann, Macron von der Frau, aber auf Sarkozys Griff in die hegelianische Mottenkiste – Afrika als Kontinent ohne Kultur und Geschichte – folgt nun Ma­crons Griff zum rassistischen Klischee des oder der Schwarzen als ungezügeltes Biest, dessen Triebe man erst mal zivilisieren müsse, damit Stabilität einkehre.
Macron sorgte für Empörung
Wie dumpf das sogar innenpolitisch ist, zeigt ein Vergleich mit Macrons einstiger Kontrahentin, der Rechtsextremen Marine Le Pen, die im französischen Wahlkampf sagte: „Mit seinen Hunderten Millionen junger Menschen verfügt Afrika über ein erhebliches Potenzial an Macht und Wohlstand.“ Am bemerkenswerten ist aber der Vergleich der Reaktionen in Afrika auf Sarkozy 2007 und Macron 2017. Vor zehn Jahren war die Äußerung des Franzosen noch wie eine Bombe eingeschlagen. Das gesamte intellektuelle Afrika, zumindest im frankophonen Raum, war außer sich. Es wurden ganze Bücher darüber geschrieben.
Macron hat ebenfalls in Afrika für Empörung gesorgt, aber nicht mehr im selben Ausmaß. Wozu die Aufregung, war der Tenor: Wir wissen doch, dass Europäer Unsinn reden, wenn es um Afrika geht, was ist daran also neu? Macrons Argument zurückzuweisen ist ja auch relativ einfach. Seine Zahlen sind falsch. Zivilisation und Fruchtbarkeitsraten sind zwei verschiedene Dinge. Und wenn man mehr Familienplanung will, muss man nicht Frauen beschimpfen, sondern Frauenrechte stärken, in Bildung investieren und vor allem den Einfluss der katholischen Kirche brechen, die einst von Frankreich nach Afrika geholt wurde.
Als einziger hochrangiger Politiker erlaubte sich Ruandas Präsident Paul Kagame einen Seitenhieb in einer Rede am 18. August zum Antritt seiner neuen Amtsperiode nach seiner Wiederwahl mit 99 Prozent der Stimmen. „Afrika hat kein zivilisatorisches Problem“, sagte er. „Nur Vorzüge.“ Auf Französisch, damit auch Franzosen merkten, an wen er sich richtete, fügte er hinzu: „sans aucun doute“ – ohne jeden Zweifel.
Das neue afrikanische Selbstbewusstsein wird auch als Machtinstrument eingesetzt
Kagame spricht gern offener als seine Amtskollegen, aber Afrika strotzt 2017 insgesamt vor einem Selbstbewusstsein, das 2007 noch selten war. Kritik aus dem Rest der Welt wird systematisch als ungehörig zurückgewiesen. „Africa First“ lautet die – in dieser Form noch unausgesprochene – Devise, mit der sich so ziemlich alle Präsidentenreden von Wahlsiegern in den letzten Jahren zusammenfassen lassen: Wir lösen unsere eigenen Probleme. Wir gehen unseren eigenen Weg. Wir dulden keine Einmischung. Wir brauchen euer Geld nicht. Lasst uns endlich in Ruhe!
Und es sind nicht nur Politiker, die so reden. In sozialen Netzwerken und im einfachen Austausch ist es normal geworden, Kommentare von Nichtafrikanern zu Vorgängen in einem afrikanischen Land als unerbetene Einmischung zurückzuweisen: Was geht euch das eigentlich an, heißt es dann schnell. Wir sagen doch auch nichts zu dem, was bei euch so los ist.
Mehr Fortschritte als in Europa
Dieses neue afrikanische Selbstbewusstsein, das jedem Bewohner von China, Russland, der Türkei und anderen Autokratien sehr vertraut sein dürfte, wird natürlich auch als Machtinstrument eingesetzt, um unangenehme Wahrheiten unter den Teppich zu kehren. Aber es entspricht auch einem verbreiteten gesellschaftlichen Gefühl, dass die Zeit für Afrika und die Afrikaner gekommen ist, sich nichts mehr sagen zu lassen. Und es ist gut möglich, dass dieser Geist die Bedingung für positive Veränderungen gerade in politisch blockierten Ländern ist.
Afrikas politische Kultur hat offensichtlich in den letzten zehn Jahren mehr Fortschritte gemacht als diejenige Europas. Im Jahr 2007 warf ein französischer Präsident Afrika vor, nicht in die Geschichte eingetreten zu sein. Heute antwortet Afrika seinem Nachfolger, er möge doch bitte in die Gegenwart eintreten.

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