Tuesday 28 April 2015

Warum Entwicklungshilfe grundlegend falsch ist


In einer 2007 durchgeführten Studie wurden Versuchspersonen für ihre Teilnahme an einem Experiment bezahlt, in dem ihnen die Gelegenheit geboten wurde, einen Teil des Geldes der Wohltätigkeitsorganisation Save the Children zukommen zu lassen. Bevor sie einen Beitrag leisteten, wurden der Hälfte der Teilnehmer Statistiken über Millionen von Menschen gezeigt, die in Sambia vor dem Hungertod standen, während die andere Hälfte eine Geschichte über die Notlage eines einzigen sieben Jahre alten Mädchens aus Afrika sah.
Diejenigen, denen die Geschichte des Mädchens gezeigt wurde, leisteten einen mehr als doppelt so hohen Beitrag als jene, denen die Statistiken dargeboten wurden. Das Ergebnis der Studie ist repräsentativ für die kreative Selbstvermarktung der unzähligen Organisationen und Initiativen, die Afrika jeden Tag aufs Neue retten wollen. 100 Tote sind eine Statistik. Die tote Kioskfrau Erna Müller aber ist eine Tragödie. Was Boulevardblätter seit Jahrzehnten pflegen, haben auch sie erkannt. Ihr Credo? Afrika schreit. Afrika weint. Afrika stirbt.
Private Entwicklungshilfe kennen wir vor allem durch traurige Bushaltestellenplakate oder klaviermusikunterlegte Fernsehspots. Da hätten wir zum einen das kirchliche Hilfswerk Missio, das für seine karitativen Zwecke gerne mit der Ausbildung von Helfern wirbt. Auf zwei Plakaten sind jeweils ein kleiner Junge und die ihn beschützende Nonne zu sehen. Dazu die folgenden Sprüche: „Seine Mutter starb an Aids. Doch er fand neuen Lebensmut." Oder: „Von allen guten Geistern verlassen. Dann kam ein Schutzengel."
Bei Misereor lautet es ganz schlicht und ergreifend: „Wir haben den Hunger satt!" Brot für die Welt titelt plakativ: „Den Armen Gerechtigkeit." Mittlerweile ist man dort weg von weißer Charity und backt lieber ofenfrisches Graubrot. Die neuen Logos zeigen nämlich - wie passend - Brote mit Afrikaaufdruck. Die Organisation Oxfam titelte jüngst: „Let's make Africa famous for its epic landscapes, not hunger." Dazu gab es eine Landschaftsaufnahme aus dem Südsudan.
„Ah ja, Armut und Landschaften. Zu mehr taugen Afrikaner einfach nicht", lästerte hierzu der nigerianische Blogger Ikenna Azuike. Seit ich vermehrt mit Bekannten aus Uganda, Tansania, Ghana oder Nigeria auf Facebook befreundet bin, bekomme ich am rechten Bildschirmrand permanent Anzeigen des SOS-Hilfswerks. „Targeting" nennt man diese Form der personalisierten Werbung. Darin heißt es: „Samora braucht Sie. Er will kein Baumhaus. Er braucht ein Zuhause. Werden Sie jetzt SOS-Pate!"

Moment, um wen geht es hier eigentlich?
„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Dieses Zitat Erich Kästners ist wahrscheinlich das einschlägigste in der Hilfscommunity - staatliche Entwicklungshilfe einbezogen. Tatsächlich suggerieren Wohltätigkeitsorganisationen und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), ihre Hilfe sei wichtig und ihre Helfer wüssten es besser. (Das gab es im 19. Jahrhundert in ähnlicher Darbietung schon einmal.) So gehen Jahr für Jahr Tausende „nach Afrika", um dort ihr Entwicklungshelfersyndrom abzuarbeiten.
„Da kann man etwas Gutes tun" dachte sich auch die US-Amerikanerin Eve Brown-Waite. Sie schrieb in ihrem Buch First comes Love, then comes Malaria von ihren Expat-Erfahrungen in Uganda. Sie war für die Organisation CARE unterwegs, fand jedoch zunächst keinen Job. Das heißt, sie war auf Spendengeldern bereits nach Uganda gereist, lebte dort und hatte nichts zu tun. Selbst bei der UNO, wo sie sich bewarb, bekam sie nichts, denn - nein, wie blöd aber auch - das waren ja zwei unterschiedliche Systeme.
So wurde nichts aus dem Vorsatz, „sich mit den ganz großen Playern der Entwicklungshilfe zu vernetzen." Stattdessen versuchte sie sich auf eigene Faust in der Aufklärung von HIV/Aids und erkrankte dabei an Malaria. Neben Äußerungen wie „meine Haushälterin stank" und dass sie ihr kleines Matschdorf ja am Ende doch irgendwie lieb gewonnen habe, vergleicht sie sich ständig mit den anderen Entwicklungshelfern, zu denen sie aufschaut, die sie beneidet, weil sie Fufu essen, Henna-Tattoos an ihren Füßen tragen und Jetsetter sind.
Auch bei Kony 2012 - zwar kein klassisches Beispiel für Entwicklungshilfe, so doch westliche Intervention durch Gutmenschentum - sollte aus unsichtbar sichtbar werden. Der Name der Kampagne war zugleich auch ihr Programm: Invisible Children. Aber bezog sich das wirklich auf ugandische Kinder? Sichtbar wurde stattdessen, wie sich die Facebook-Jugend gegenseitig auf die Schulter klopft. Stellenweise vergaß man, um wen es wirklich geht. Die Bewegung natürlich - sie kam, sah und half.
2005 waren es Bob Geldof und Madonna, die beim Live-8-Konzert eine junge Frau zu den Klängen von Like a Prayer auf die Bühne holten und verkündeten: „Entwicklungshilfe funktioniert! Dank Eurer Hilfe konnten wir dieser jungen Frau eine Zukunft geben!" Das Publikum war kaum zu bändigen. Der Messias Afrikas hatte zu ihnen gesprochen. Auch sein Kumpel Bono von der Rockband U2 stellte sich auf die Bühne und wurde tiefschürfend, als er vom Elend in der Dritten Welt kündete:
„Dies ist unser Moment. Dies ist unsere Chance, dafür einzustehen, was richtig ist. Wir wollen keine Charity - wir wollen Gerechtigkeit! Wir können nicht jedes Problem lösen. Aber die, die wir lösen können, müssen wir lösen. 3000 Afrikaner, vorwiegend Kinder, sterben jeden Tag an Moskitostichen. Wir können das ändern. 9000 Menschen sterben jeden Tag an einer behandelbaren Krankheit wie Aids. Wir haben die Medikamente. Wir können ihnen helfen. Schmutziges Wasser? Wir können Brunnen bauen. Helft und schließt Euch an!" Wir. Helfen. Afrika. Amen.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Niemand wird ernsthaft etwas gegen humanitäre Hilfe einzuwenden haben - und sei es, dass Passau unter Wasser steht. Doch das vermeintliche Totschlagargument „sollen wir sie denn alle verrecken lassen" ist wohlfeil. Entwicklungshilfe hat eine Sichtweise zementiert, die dem Betrachter ganz Afrika als hilfsbedürftigen Ort suggeriert. Dabei existiert alles Bedrohliche nur auf Plakaten, im Fernsehen, auf Spendenseiten im Internet. Komm und hilf! Bitte sei so gut!
In Wirklichkeit gibt es gar keine Verwandtschaft zwischen dem Betrachter und Afrika. Der Betrachter selbst bleibt unantastbar. Lieber spendet er zehn Euro. Denn Helfenkönnen und Anteilnahme sind zutiefst menschliche Reaktionen. Auch hierzulande bestätigt der Trotz mancher Mitglieder von Band Aid 30 nach der Kritik an ihrem klischeedurchtränkten Lied Do they know it's Christmas? zu „Ebola in Westafrika", dass es gar keinen reinen Altruismus gibt. Selbst die altruistischste Handlung ist getragen von einer egoistischen Motivation.
Das ist nicht verwerflich, sondern natürlich. (Problematisch an dem Lied war ohnehin vielmehr, dass Band Aid 30 keine Ahnung von Afrika hat.) Doch durch Entwicklungshilfe ist Helfenkönnen zu einem Moment der eindeutigen Überlegenheit pervertiert worden, einem Gefühl der Gottgleichheit, das man sich für seine uneigennützige Hilfe beschert. Bei Bono meint man gar, er wollte sich auf den Bühnen dieser Welt einen kleinen Orgasmus schenken. Da frohlocken die armen Afrikaner in der Dritten Welt.
Ach ja, die gute alte Dritte Welt. Sie ist im deutschen Sprachgebrauch zum moralischen Zuckerguss geworden. Sie ist der mit Abstand mythenreichste Ort auf dem Gesinnungsglobus. Bethlehem und Mekka sind nichts dagegen. Die Dritte Welt kam einst zu ihrem Namen, weil sie nicht zur ersten und nicht zur zweiten gehören durfte. Aber hätte die Dritte Welt nicht eigentlich seit 1990 eine Stelle aufrücken müssen, weil damals die zweite zu Grabe getragen wurde? Und hat Botsuana nicht ein höheres Pro-Kopf-Durchschnittseinkommen als Serbien? War es nicht Spanien, das eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 % hat? Haben wir eine erste Welt in Afrika oder eine dritte Welt in Europa?
Egal. Die Rangordnung wird schön beibehalten, damit es uns auch weiterhin besser geht, damit wir auch weiterhin einen Grund haben zu helfen und auch weiterhin am Leiden Afrikas gesunden können. Entwicklungshilfe ist grundlegend falsch, weil sie eine klare Hierarchie zwischen uns und Afrika manifestiert. Wir die Lehrenden, sie die Lernenden. Wir die Helfenden, sie die Hilfsbedürftigen. Wir hier oben, sie dort unten.
Nicht anders verhält es sich mit staatlicher Entwicklungshilfe. Das Entwicklungshilfeministerium (BMZ) und die GIZ kennen Sie vielleicht von großen, rechteckigen, weiß unterlegten, vor unerkenntliche Baustellen in den Boden gerammten Schildern aus dem Ausland, die Heimatgefühle in uns wecken. Dort wird Entwicklungshilfe neuerdings „modifiziert". Es gibt nun „konsequente Effizienzprüfungen" sowie eine sorgfältige, transparente und nachvollziehbare Auswahl der Empfängerländer.
Diese „Modifizierungen" haben bislang vor allem eins gebracht: Tolle Wortschöpfungen, wie „Nachhaltigkeitsüberprüfung" etwa oder „Entwicklungshilfe aus einem Guss" oder - die coolste Trendvokabel in der Entwicklungshilfe - „Hilfe zur Selbsthilfe". BMZ und GIZ vermarkten sich zwar nicht ansatzweise so offensiv, wie Save the Children oder Misereor. Doch Begriffe wie „Entwicklungszusammenarbeit" oder „Hilfe zur Selbsthilfe" sind in Wahrheit Euphemismen. Hinter ihnen versteckt sich ebenfalls die durch westliche Geberpolitik manifestierte Hierarchie zwischen „uns hier oben und denen dort unten".
Entwicklungsminister Gerd Müller von der CSU glänzte in seiner Antrittsrede im Januar 2014 entsprechend mit Äußerungen wie „Afrika kann sich selber ernähren", als handele es sich dabei um ein grenzdebiles Kind, das man behutsam umsorgen müsse. Vielmehr noch: Nur, wenn es einen Wissenstransfer gibt - denn „wir haben das Wissen, das Können" - dann sei „Afrika selber imstande, sich zu ernähren." Man muss schon staunen über so viel Arroganz. „Ein Ende der Armut und des Hungers, von Krankheit und Seuchen ist möglich." Deshalb arbeite man auch gerade „an einem neuen entwicklungspolitischen Afrika-Konzept". Minister Müller dringt in Galaxien vor, die er nie zuvor gesehen hat.

Ein sonderbares Erlebnis
Auf einer Busfahrt in Ruanda zwischen Rubavo und Gisenyi im Mai 2013 hatte ich eine im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdige Begegnung. Neben mir saß ein junger Mann, Mitte 20. Er hieß Emmanuel, trug ein gestreiftes Hemd und Jeans. Ich stutzte, als er mir mitteilte, dass beide seiner Eltern während des Bürgerkrieges umgekommen waren und er deshalb für sich beschlossen hatte, hart zu arbeiten.
Das sagte er mir ganz nebenbei. Ich hörte seiner Geschichte zu, bis er mich plötzlich aus heiterem Himmel fragte: „George, is there poverty in Germany?" Ich schaute ihn lange an, weil ich einfach nicht wusste, wie ich auf diese Frage antworten sollte.
Wie viel Armut ich in Afrika gesehen hätte, wurde ich in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt. Denn das Klischee von bettelarmen Leuten ist das wohl hartnäckigste Vorurteil, das den gesamten Kontinent umrankt. Das Interesse daran, zu wissen, wie viel die Menschen tatsächlich haben oder eben nicht haben, ist ungebrochen. Einkommen als definierende Charaktereigenschaft. Doch ist es mit der Armut nicht so wie mit der einzigen Linse, die man von Afrika hat?
In Wahrheit erlaubt uns diese Linse, dass wir uns überlegen fühlen, denn wir „haben mehr". Lässt man die Tiere in den Nationalparks weg, offenbart sich Afrika als das blanke Grauen. Das Tückische daran ist, dass wir unbewusst eine geistige Überlegenheit entwickeln. Diese Tücke wird besonders dort deutlich, wo wir sie am wenigsten vermuten, nämlich an unserem permanenten Drang, Afrika unbedingt helfen zu müssen. Mir fallen immer wieder die Worte meiner ugandischen Freundin Sheilah ein, die mich einmal fragte: „Ist das Eure Art der Sympathiebekundung?"
Es ist tatsächlich mehr als das: Diese permanente Reduzierung ist Teil eines Ungleichgewichts, eines Über-Unterordnungsverhältnisses zwischen Europa und Afrika. Es ist Teil von erster Welt und Dritter Welt. Es ist die Psychologie, der sich Save the Children und Misereor bedienen. Es ist der Stoff, aus dem Kony 2012 und Live 8 gemacht sind. Es ist in Wahrheit unsere eigene kostenlose Therapiestunde. Die Ablenkung von eigenen Themen. Das Gesunden am Leid des anderen.
"Wirklich, so seht ihr uns?"
Sheilah war vor ein paar Jahren zu Besuch in Berlin. Auf meine Nachfrage, wie sie die Stadt finde, hatte sie nur Gutes zu berichten. Besonders mochte sie die U-Bahn. „Das fehlt uns in Kampala." Doch habe sie gestern bei ihrer Ankunft am U-Bahnhof ein Werbeplakat mit einem kleinen schwarzen traurigen Kind gesehen. Sie wusste gleich, um was es sich handelte. An der nächsten Station dasselbe Plakat. Und an der darauffolgenden wieder dasselbe. Save the Children weiß eben, was zu tun ist. Sie musste lachen und fragte mich: „Also das ist es, was ihr von uns haltet? Wirklich, so seht ihr uns?"
Der gleichen Meinung ist auch die sambische Ökonomin Dambisa Moyo. Sie forderte 2009 in Toronto unmissverständlich: "Wir wollen keine Sympathie. Wir wollen kein Mitleid. Wir wollen Möglichkeiten. Und der einzige Weg hierzu ist, dass man uns endlich als gleichwertig betrachtet und nicht wie Kinder."
Auf einem Flug nach Kigali kam einmal eine Durchsage einer Flugbegleiterin an die Passagiere, man habe nun die Gelegenheit, Spenden für Hilfsprojekte in Ruanda in kleine vorgefertigte Umschläge zu legen. Diese würden dann im Anschluss von den Flugbegleitern eingesammelt. Brussels Airlines, so die Durchsage, wolle sich so am Aufbau des Landes beteiligen. Die Frau neben mir seufzte nur laut und sagte zu sich: „Dear Lord! Not again!"
Im Juni 2011 hielt ich an der Universität Oslo einen Vortrag zum afrikanischen Menschenrechtssystem. In der Zuhörerschaft saß auch Ruth aus Kenia. In der Pause kamen wir ins Gespräch und sie war überhaupt nicht begeistert davon, dass ein Europäer ihr die Defizite ihres eigenen Kontinents vor Augen führte.
Ruth war freundlich, kritisierte jedoch, ich wolle ihr als Europäer einzig eine Lektion darüber erteilen, wie Menschenrechtsschutz nicht ausgestaltet sein sollte: „You come here and talk to us like you know it better and I think to myself: Why is the mzungu telling us about our problems in Africa?" Wie Sie vielleicht wissen, bedeutet „mzungu" „der Weiße" oder „der Fremde". Wortwörtlich beschreibt das Wort auf Swahili denjenigen, der ziellos umherirrt.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Gestatten: Afrika. Warum ein zweiter Blick auf unsere Nachbarn lohnt" von Jörg Kleis (http://www.gestattenafrika.de). Am 19. Mai 2015 veranstaltet der Autor mit der Soul-Jazzband Groovebop Quartet in Köln eine Konzertlesung in der studiobühneköln im Rahmen des Festival contre le racisme.
CLICK 

No comments:

Post a Comment